Rainer Wochele

Trierischer Volksfreund zum 'Flieger'

Trierischer Volksfreund, 6. Dezember 2004

Requiem für einen Flieger

Autor arbeitet spektakuläre Selbsttötung auf dem Flugplatz Föhren auf

Von unserem Redakteur Dieter Linz

TRIER/FÖHREN. Ein Buch reißt alte Wunden auf: in seiner Novelle „Der Flieger“ analysiert der Schriftsteller Rainer Wochele die Selbsttötung eines Piloten, die vor acht Jahren für Gesprächsstoff in der gesamten Region sorgte.

Die Detonation, mit der sich der Flieger Ingo Schwoon in den Morgenstunden des 1. April 1996 auf dem Flugplatz in Föhren den Kopf buchstäblich wegsprengte, hallte lange nach.

Sie hallte nach in nicht enden wollenden Todesanzeige im Trierischen Volksfreund, die einerseits gespickt waren mit Hymnen auf die Gradlinigkeit, das „wunderbare Herz“ und die Kameradschaftlichkeit des Gestorbenen, andererseits mit düsteren Andeutungen über einen Mann, dem man „alles genommen hat, was sein Leben war“.

Sie hallte nach in einer Versammlung des Fliegerclubs Trier, in dem der Vorsitzende und sein Stellvertreter, dem die Mehrheit der Mitglieder offenkundig eine Schuld an Schwoons Suizid gab, wie Verbrecher aus dem Amt gejagt wurden.

Sie hallte nach in einem bundesweiten Presse-Echo, das auf Umwegen auch den Stuttgarter Schriftsteller Rainer Wochele erreichte, der den Fall in beispielloser – und einen Tageszeitungs-Journalisten neidisch machender – Gründlichkeit recherchierte und in ein kunstvoll aufgebautes, sprachmächtiges Buch goss.

Wie sehr der Fall auch nach Jahre immer noch die Gemüter bewegt, zeigte sich dieser Tage bei einer Lesung Wocheles in der Trierer Thalia-Buchhandlung, wo 90 Zuhörer, darunter mehr als die Hälfte aus der regionalen Flieger-Szene, mit bitter-ernsten, versteinerten Gesichtern, teilweise den Tränen nah, die Gedanken-Flüge des Autors verfolgten.

Ingo Schwoon heißt bei Wochele Richard Recknagel, aber der mit ausdrucksvoller, bisweilen fast gesungen klingender schwäbischer Sprachfärbung lesende Schriftsteller macht keinen Hehl daraus, um wen es hier eigentlich geht – so wenig wie seine Zuhörer in der anschließenden Gesprächsrunde. Schließlich haben die meisten von ihnen den Protagonisten des Buches gekannt, und etliche gehören zum Kreis der Zeitzeugen, die Wochele bei seinen Recherchen befragt hat.

Er sei Autor, nicht Richter, sagte Wochele fast beschwörend. Aber er urteilt natürlich doch. Denn „Der Flieger“ hat, wie jede gute Novelle, einen Helden, auch wenn sie ihn beileibe nicht idealisiert. Und sie hat ihre Schurken und Intrigenspinner, auch wenn sie auf deren Dämonisierung sorgfältig verzichtet.

Der erste Satz der Gesichte lautet „Warum?“, der letzte „Was wissen wir voneinander?“ 14 der 19 Kapitel beginnen mit einer Frage. Wocheles Erkundungsflug in unbekannte psychologische Gefilde nimmt den Leser mit in die Lebensgeschichte des Richard Recknagel. Ein 57-jähriger Haudegen, stets bekleidet mit Kniebundhosen, Bergschuhen und schwarzem Barett, eine charismatische Persönlichkeit mit tief verborgenen, aus der Kindheit her rührenden Defekten. Ein Fluggenie mit Hang zu Kabinettstückchen, einer, der gern zuviel trinkt, ein Kommunikationstalent und hoch geschätzter Kumpel, aber unfähig zu festen Bindungen.

Das Naturereignis Recknagel trifft im Fliegerclub auf ein penibles, auf die Vereinsordnung bedachtes, jedem Schlagen über die Stränge zutiefst abholdes Vorsitzenden-Duo. Vom Gedanken beseelt, die nicht ungefährlichen Eskapaden Recknagels zu beenden, aber auch wohl wissend, dass eine Mehrheit für einen Vereinsausschluss nicht zu finden wäre, leiten sie aufgrund persönlicher Beziehungen eine Intrige ein.

Die Polizei wird dem alkoholisiert nach Hause fahrenden Flieger auf den Hals gehetzt, Führerschein-Entzug, er darf nur noch dienstliche Fahrten in seiner Eigenschaft als Sprengmeister unternehmen. Mit dem LKW fährt er weiter zu seinem Flugplatz, erneut sorgen seine Gegenspieler für einen Polizei-Einsatz, nun droht Recknagel auch der Verlust der über alles geliebten Fluglizenz. Er zieht sich von allem zurück, schreibt Abschiedsbriefe, in denen er vernichtende Vorwürfe gegen seine Widersacher erhebt – und setzt das letzte Fanal an einem kühlen Septembermorgen.

Wocheles Buch zieht den Leser, wenn er sich denn auf die verwobene Erzählweise einlässt, magisch in diese Geschichte hinein. Die Novelle ist ein Requiem für einen Flieger, aber auch die detailbesessene Aufarbeitung eines Lebens, die schonungslose Analyse eines Verzweiflungsaktes und – nicht zuletzt – eine zauberhaft die Faszination des Fliegens schildernde Erzählung. Für die Fliegerszene in Trier aber bleibt es eine Geschichte mit Sprengstoff. Immerhin leben die Beteiligten noch hier, und so realitätsnah, wie das Buch geschrieben ist, wird dem Leser unausweichlich nahe gelegt, alles für bare Münze zu nehmen. Auch wenn der Autor die Handlung in eine schwäbische Kleinstadt verlegt hat und sich damit heraus redet, er lasse sich „auf die Realität nicht festnageln“. Zumindest diejenigen, die die moralischen Verlierer dieser Geschichte sind, werden es anders sehen.

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