Rainer Wochele

Stuttgarter Nachrichten und Stuttgarter Zeitung: Der Flieger

Stuttgarter Nachrichten, 24.9.2004

“Was macht einer unmittelbar vor seinem Freitod? Lächelt er, denkt er nach, pfeift er ein Lied? Oder anders gefragt: Wann hätte dieses Vorhaben noch verhindert werden können? Und was passierte parallel dazu in der Stadt, als der Sprengsatz losging?

In Rainer Wocheles neuer Novelle ‚Der Flieger’ ist der Fall unmissverständlich: Der Freitod-Plan geht auf, und kurz davor pfeift dieser Mensch den bayerischen Defiliermarsch. Die Hauptperson des Buches, der 57-jährige Richard Recknagel ist ein Sonderling: Regelmäßig geht er seiner Arbeit als Sprengmeister nach, die ganze Leidenschaft des Junggesellen gehört ansonsten der Fliegerei. Einerseits ist er ein sehr erfahrener und sein Jahrzehnten unfallfreier Flieger, andererseits verstößt er mit risikoreichen Aktionen immer wieder gegen die geltenden Richtlinien. …

Wochele ist ein genauer Rechercheur und guter Beobachter. Der Novelle liegt ein konkreter Fall zu Grunde. Der Eigenbrötler stößt bei einigen etablierten Vereinsmitgliedern aus dem Banken- und Arztwesen zunehmend auf Ablehnung, mit Denunziationen machen sie ihm das Leben schwer. Zugetragen hat sich die Tragödie in Rheinland-Pfalz, Wochele hat sie nach Friedrichsburg verlegt, leicht zu erkennen als Esslingen. …

Wochele läßt seine Leser mitfliegen über den Schurwald, über die Schwäbische Alb, er lässt sie teilnehmen an der Suche nach Thermik …

Wochele ist ein hervorragender Präsentator seiner Texte. Leidenschaftlich steigert er sich in einen Begeisterungsrausch, um später wieder ganz besinnliche Töne wirken zu lassen. Dabei ist Recknagel mit seinen Kniebundhosen, seinem schwarzen Barett auf dem Kopf, der Ray-Ban Sonnenbrille und seinem bayerischen Akzent keineswegs das Alter Ego des Autors. Höchstens dessen nicht ausgelebte Leidenschaft fürs Fliegen schlägt sich hier als erträumte aktive Ausübung im Buch nieder.

Dennoch sind alle Personen sehr plastisch, denn der Menschenkenner Wochele versteht es sehr gut, ihnen die jeweils passende Sprache zu geben.”

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Stuttgarter Zeitung, 14.9.2004

“Schaurig beginnt dieses Buch. Ein Sprengmeister sprengt kein Gebäude, sondern sich selbst in die Luft. Ein pompöser Freitod. Freunde und Bekannte vernehmen die Detonation aus der Ferne, nicht ahnend, was sich hinter dem Knall verbirgt. Und der Sprengexperte zelebriert sein pathetisches Ableben an einem Ort, der ihm Heimat war, an einem (halb-)öffentlichen Ort, einem Segelflugplatz. Der Selbstmörder Richard Recknagel liebte es abzuheben, liebte beides, sich in die Lüfte zu schrauben und das exakte Gegenteil: nämlich in den Erdboden zu bohren, um Sprengladungen zu legen.

Es ist ein gesellschaftlicher Mikrokosmos, den Rainer Wochele für seine neue Novelle “Der Flieger” liebevoll und zugleich karikaturistisch zusammengebastelt hat, das Figurenarsenal einer Kleinstadtgesellschaft im Schwäbischen …

Eine außergewöhnliche Type hat Wochele sich mit seinem Helden Richard Recknagel ausgedacht, eine Figur, die sympathisch und unsympathisch zugleich ist. Schon seine Aufmachung weist ihn als knorrigen Sonderling aus, als Mixtur aus Fremdenlegionär und Trachtenheini. Kniebundhosen mit Bergschuhen trägt Recknagel, khakifarbene Hemden, Blouson oder grüne Strickjacken und stets ein schwarzes Barett …

… Eine Art Krimi hat Rainer Wochele, Stuttgarter Autor und Stz-Kolumnist, geschrieben. Am Anfang steht statt eines Mordes ein Suizid. Doch dann geht’s weiter wie im konventionellen Krimi: Wer ist der (Selbst-)Mörder? Und warum hat er getötet? Wochele analysiert, wie dieser Richard Recknagel gelebt hat, welche Lüste und Besorgnisse ihn umgetrieben haben, was ihn bewog, so spektakulär und auftrumpfend seinem leben ein Ende zu setzen.
Wocheles Blick auf seine Figur Richard Recknagel ist ein liebevoller Blick, und das macht die Qualität der Novelle aus.

Warum nimmt sich Recknagel das Leben? Ein besessener Flieger ist der 57-Jährige, ein Segelflughallodri, der schon mal einer dreißig Jahre Jüngeren, die mit ihm im Cockpit hockt, demonstriert, wie man ‚auf Ameisenkniehöhe’fliegt, das heißt ganz locker unter Hochspannungsleitungen durchrauscht. Recknagel, starker Trinker, fliegt auch leicht alkoholisiert und vollführt ‚über Rottweil extremste Manöver’ Sein Antipode, der Fliegerclubchef Lämmle, ein ordnungsbesessener Zahnarzt, möchte Recknagel zur Strecke bringen, und das schafft er auch. Da thematisiert Rainer Wochele den guten alten Gegensatz von Außenseiter und Bürger.

Interessanter an Wocheles Novelle ist etwas anderes. Er konstruiert seinen Helden Recknagel als eine brüchige und vom Scheitern bedrohte Figur. Recknagel tritt als dröhnender Anekdotenverzapfer auf, als fliegerischer Tausendsassa. Zugleich aber treibt ihn seine ungeklärte Herkunft um.

… Wochele macht das ganz schön, wie er einen wunderlichen Mann beschreibt, der eine Heimat, (einen Ort, Menschen) sucht, doch an verbissenen Spießern und an sich selbst scheitert. Und all das in pulsierender, atmender, exakt zupackender Prosa. …

‚Der Flieger’ ist ein ganz und gar lesenswertes, spannendes Buch.”

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