Rainer Wochele

Haller Tagblatt und NZZ über den 'Flieger'

HALLER TAGBLATT, Schwäbisch Hall

LITERATURTAGE / Rainer Wochele gibt Einblicke in seine Schreibwerkstatt

Die Frage nach dem Warum

“Der Flieger” stirbt im stilvollen Ambiente des Adolf-Würth-Airports
Rainer Wochele liebt das Gespräch mit seinen Lesern. So ist die Frage- und Anmerkungsrunde im Anschluss an die Lesung aus seiner faszinierenden Novelle “Der Flieger” ein gewichtiger Programmpunkt, der noch einmal ein ganz anderes Licht auf den kunstvollen Text wirft.
MONIKA EVERLING


Bild: Wochele auf dem Airport: Die Fakten sind gründlich recherchiert. FOTO: KUMPF

SCHWÄBISCH HALL Gerade auch mit den verschiedenen Orten, an denen die Lesungen stattfinden, können die Literaturtage Baden-Württemberg ein außerordentlich vielfältiges Publikum erreichen. Jüngstes Beispiel ist die Buchvorstellung von “Der Flieger”, die authentisch in einer stilvoll hergerichteten Flugzeughalle des Schwäbisch Haller Adolf-Würth-Airport stattfindet und damit neben den Literaturtage-Stammgästen vor allem die Freunde des Luftsports anspricht.
Dabei handelt es sich keineswegs um ein Buch nur für Insider. Nein, “Der Flieger” ist eine faszinierende Novelle mit allen literarischen Raffinessen.
Autor Rainer Wochele hat Philosophie und Psychologie studiert und jahrelang als Journalist gearbeitet. All dies findet im Buch seinen Niederschlag: Die Frage nach dem Warum eines spektakulären Freitods wird philosophisch und psychologisch aufgeworfen, und die Fakten sind gründlich recherchiert. (…)

Rainer Wochele liest einen längeren Auszug aus dem Anfang seines Buches, in dem Stil und Ton des Textes deutlich werden: Wochele zeigt keinerlei Angst vor Redundanzen. Schon die ersten Sätze wiederholen sich. Die Sprache, so wird Wochele später im Gespräch erläutern, ist ein Spiegel des Stoffes. Die Segelfliegerei ist geprägt von vielen sich oft wiederholenden Vorgängen, etwa bei den Sicherheitschecks vor dem Start. Immer die gleichen Abläufe, immer die gleichen Sätze, das hat Wochele in seine Novelle übernommen. Dass der Text dadurch keineswegs langweilig wird, sondern eher stimmungsvoll, das macht seine literarische Qualität aus.
Wochele zeichnet die Typen im Vereinsleben so lebendig nach, dass schon mehrere Fliegerclubs sich selbst als Vorbild ausgemacht haben. Er begleitet alle Personen mit Sympathie, bringt für Recknagels Eigenmächtigkeiten ebensoviel Verständnis auf wie für das Sicherheitsbedürfnis des Vorsitzenden Lämmle, der sich sein Lebensglück hart erarbeitet hat und es nicht aufs Spiel setzen will.
Wenn Rainer Wochele liest, wird seine Stimme geschliffener, weicher als in der freien Rede, und er betont die Endsilben. Sehr deutlich setzt Wochele jene Stellen seines Textes ab, in denen seine Protagonisten sich erinnern. Er spricht dann leise, wie in einem Traum.
Ganz handfest wird er dagegen, wenn er Einblick in seine Schreibwerkstatt gewährt, über das richtige Verhältnis von Recherche und Fiktion spricht.
Rainer Wochele gehört nicht zu den prominentesten unter den Literaturtage-Autoren, aber in der Qualität steht er diesen nicht nach. Davon überzeugen sich bei seiner Lesung auf dem Haller Flugplatz viele, und sie geben ihrer Anerkennung auch gebührend Ausdruck.

Neue Zürcher Zeitung, 16. Februar 2005

Richard Recknagels Fall in die Wirklichkeit

Eine Novelle von Rainer Wochele

Bald fünfzehn Jahre ist es her, dass in deutschen Lektorenbüros und Schriftstellerklausen wieder einmal nach einer literarischen Verjüngungskur gerufen wurde. Welthaltigkeit und Wirklichkeitsnähe sollten des Gedankens Blässe heilen, satte Fakten ins trockene Schreiben einfliessen, die Methoden des Journalismus der lahmen Phantasie auf die Sprünge helfen. Solche Rezepte _ Zeichen von Ermüdung angesichts der irreversiblen Erkenntnis der Moderne, dass keine Realität ausserhalb unserer Wahrnehmung existiert _ kehren periodisch wieder, ändern jedoch nichts an der Tatsache, dass das Leben kein creative-writing-Kurs, sondern bloss der Stoff ist, aus dem Texte und Träume erst gemacht werden müssen, vom Liebesgedicht bis zum Agentenroman.

„Es war, als hätt’ der Himmel / Die Erde still geküsst, / Dass sie im Blütenschimmer / Von ihm nur träumen müsst’ …“: Diese wunderbar verstiegenen, ach so wirklichkeitsfernen Verse Joseph von Eichendorffs geben das Motto eines Buches, dessen Handlung gewiss auf einer authentischen Vorlage beruht _ nicht nur weil sein Autor Rainer Wochele Lokaljournalist der Stuttgarter Zeitung war, sondern weil er allenthalben kenntlich macht, dass Ort und Zeit, Verlauf und Personal seiner Geschichte diesseitiger, alltäglicher und gewöhnlicher nicht sein könnten. Erst in der novellistischen Verdichtung finden das Originelle und das Exemplarische zu einer „unerhörten Begebenheit“ zusammen, die dem scheinbar zufälligen Ereignis die Signatur eines „klassischen Falles“ gibt.

In der ehemals Freien Reichsstadt Friedrichsburg mit ihrer Burg, die man „vom Rand des Stadtkerns aus auch über einen überdachten, gemächlich Höhe gewinnenden, sich den Neckartalhang durch Weinberge hinaufziehenden alten Treppengang“ erreicht, erkennt der Kundige zweifelsfrei die süddeutsche Stadt Esslingen. Dort findet an einem ganz normalen Tag _ genauer: am Montag, den 25. September 1997 um 8.30 Uhr _ die Chronik eines angekündigten Todes ihr Ende, als der Sprengmeister und passionierte Hobbyflieger Richard Recknagel zum letzten Mal Dynamit entzündet, das den Kopf des 57jährigen zerfetzt. Und wie sich die Schallwellen der Detonation übers Neckartal ausbreiten, so folgt die Erzählung den Wellen der Ereignisse, die diesem unerbittlich endgültigen Knall vorausgehen _ als Rekonstruktion einer Provinzintrige, die das ewige Thema vom Abweichler in einer festgefügten, konservativen Gemeinschaft variiert.

Ein Rezensent hat Wocheles letztes Buch, den Roman „Das Mädchen, der Minister, das Wildschwein“, als (zu) brav gekennzeichnet, in Verkennung der Kunst, mit der dieser Autor aus den Niederungen der schwäbischen Region _ Boden­ständigkeit und Vetterleswirtschaft, Sinnenfreude und Honoratiorendünkel, pietistische Innerlichkeit und raffgierige Häuslebauermentalität _ den Seelenstoff herausdestilliert, aus dem auch die grossen Dramen schöpfen. Vielleicht ist es die (ihrerseits schwäbische?) Treuherzigkeit, mit der diese Ingredienzien, oft ungemischt, den einzelnen Figuren zugeordnet sind und archetypische Situationen zuwege bringen. Der Protagonist jedenfalls, „Junggeselle, Frauenverehrer auf seine Art, Frauenverletzer auf seine Art, Barettträger tagaus, tagein, Kniebundhosenträger tagaus, tagein, ein Kerl mit Polterstimme und Polterlachen, Orkan und dann wieder Mimose“, ist ein ungebrochener Sympathieträger, ebenso wie die Antg onisten ungebrochen antipathische Figuren sind.

Wenn auch nur fast. Denn in der Chronologie der halb betriebenen, halb geduldeten Exkommunikation des kauzigen Piloten aus der Familie der Flieger inklusive Entzug des Flugscheins spielen die Versäumnisse auf beiden Seiten eine ebenso grosse Rolle wie die Taten, die unterdrückten Regungen ebenso wie die vollendeten Tatsachen. Wie jede Tragödie ist auch dies eine Geschichte der Absichten, deren Kehrseite als Verkettung unglücklicher Umstände zu lesen ist. Der skurrile Einzelgänger, Bayer und damit „Neig’schmeckter“, also Zugezogener obendrein, ist den Vereinsoberen zu fremd und zu eigen zugleich; man sucht nach Regelverstössen, findet sie in den selbstsicheren Flugexperimenten des leidenschaftlichen Profis und seinen gelegentlichen Saufeskapaden und kriminalisiert das Unkonventionelle in bewährter Vetternmanier, indem man punktgenau die Polizei auf ihn hetzt. Der in die Enge Getriebene reagiert wiederum unkonventionell; sein Urlaub als Gast im Klost er, seine private kleine Erleuchtung steigert die Fallhöhe erneut, denn sie führt zu einer gefährlichen Offenherzigkeit. Recknagel spricht im Vereinskreis zum ersten Mal über seine Herkunft, und der wunde Punkt, erstmals unschuldig blossgelegt, wird zur offenen Flanke.

Fragend, in konzentrischen Kreisen nähert sich der Erzähler dem Geschehen, scheinbar sorglos zwischen den Perspektiven, den Zeiten wechselnd, Unscheinbares zusammentragend, Erzählversionen variierend und trotz solcher Puzzlearbeit die Spannung stetig hochtreibend, je tiefer er in die Gefühlsökonomie der Akteure eindringt, bis am Ende der berühmte kleine Tropfen den Selbstmord herbeiführt. Die Plausibilität, die Wochele durch diese vorsichtige Ermittlung erreicht, verdankt sich der Genauigkeit, mit der er am Unbewussten arbeitet. Es umfasst, gänzlich unaufdringlich, die verdrängte Nazivergangenheit genauso wie das Psychogramm des Fliegers. Was psychoanalytisch ein Bild des Narzissmus darstellt, entfaltet sich konsequent als (auto)erotisches Seelenmotiv des bindungsschwachen, kränkbaren Eigenbrötlers, als Flucht, Grössenphantasie, Kinderwahn und kosmische Geborgenheit gleichermassen. Nur manchmal schraubt der Autor seine schwungvollen Loops in eine allzu manifeste Metaphorik hinein _ wenn etwa „lachend eine muskelbepackte Hochdrucklage erschien und mit frühjahrshitziger Sonneneinstrahlung lockte“: Da treibt Fluggier die Piloten (und Pilotinnen) „in die vaginösen Rumpfröhren, an die berührungsempfindlichen Organe Knüppel, Ruder, und hinter denen ins beheizte Blau hinauf.“ Ob Husky, Bussard oder Charles Lindbergh, die Sexualanalogie des Fliegens wird auch dort noch hervorgehoben, wo die kühne, sinnliche, experimentierfreudige Sprache längst das semantische Ziel erreicht hat.

Bleibt festzuhalten, dass nicht nur die Technik des Fliegens, sondern auch die des Sprengens gründlich recherchiert ist, nicht anders als das soziale Geschehen selbst. Was zählt, ist jedoch einzig die Wahrnehmung des Erzählers, die Sprachschöpfung des Autors, sein Gesang auf Leben und Tod eines einsamen Luftbewohners: „Und meine Seele spannte / Weit ihre Flügel aus, / Flog durch die stillen Lande, / Als flöge sie nach Haus.“

Dorothea Dieckmann

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