Rainer Wochele

Der Flieger: St. Galler Tagblatt und Eßlinger Zeitung

St. Galler Tagblatt

Der Flieger will nicht mehr

Ein ungewöhnlicher Krimi von Rainer Wochele

In Rainer Wocheles Novelle “Der Flieger” wird der Leser zum Detektiv, der die Spurensuche des Erzählers über den spektakulären Selbstmord eines Hobbyfliegers eigenständig rekonstruieren muss.

Was macht einer unmittelbar vor seinem Selbstmord? Was passiert parallel in der Stadt, wie nehmen die Freunde und Widersacher den Moment der Explosion wahr? Wochele, ein genauer Beobachter, lässt den Leser mitfliegen – über die Schwäbische Alb aber auch in die Herzen der am Todesfall Beteiligten. Jeder Figur verleiht der Autor die passende Sprache und gestaltet sie unnachahmlich plastisch, sodass der gesellschaftliche Mikrokosmos einer schwäbischen Kleinstadt liebevoll und zugleich karikaturistisch gemalt vor den Augen des Lesers entsteht.

Einer geht in die Luft

Erzählanlass bildet der reale Selbstmord eines eigenwilligen und genialen Sportfliegers in Trier, Mitte der 90-er Jahre. Wochele las in der Zeitung von dem Flieger, der sich auf dem Gelände des Clubs in die Luft sprengte, und begeisterte sich für die Dramatik und Novellenhaftigkeit dieser “unerhörten Begebenheit”. Er begann den Fall zu recherchieren und auf seine Weise zu bearbeiten, sodass das vorliegende Buch weder Klatschgeschichten noch Sensationen bereithält, sondern nach den psychologischen Hintergründen der Tat fahndet. Wochele geht es um die Frage: Was muss in einem Leben passieren, dass einer diesen Tod wählt?.

Das erzählerische Vorgehen bei diesem “literarischen Ermittlungsverfahren”, wie es der St. Galler Literaturwissenschaftler Mario Andreotti nennt, ist bemerkenswert. Die traditionelle Form der Novelle mit ihrer sehr stringenten Handlungsführung auf den Höhe- und Wendepunkt hin wird durch die moderne Erzähltechnik aufgelöst. Der Lebensweg des 57-jährigen Sprengmeisters und Hobbyfliegers Richard Recknagel ist in kleinste Teile zerstückelt, die in nicht chronologischer Reihenfolge, teilweise auch sich wiederholend oder widersprechend, in den Erzählgang eingestreut werden. Dazwischen übernimmt der Erzähler diverse Rollen, z.B. die des Interviewers. Nahestehende werden zur Hauptperson befragt, eine Intrige im Fliegerclub wird aufgedeckt. So entfaltet sich im Verlauf des Erzählens die innere Logik der Hauptfigur. Bei jeder Wiederholung einer Textpassage hat der Leser etwas mehr verstanden und am Ende des Buches ist man geneigt, die Geschichte unmittelbar von vorne zu beginnen, in der Gewissheit, dass man viele Fakten beim ersten Mal überlesen hat.

Langsam und schnell

Wahres Vergnügen bereitet die lakonische Sprache, mit der diese ungewöhnliche Alltagsgeschichte daherkommt. Häufig im Dialog mit dem Leser oder den Figuren, mit kurzen, assoziativen Sätzen umkreist Wochele die Innerlichkeit seiner Protagonisten mit anschaulichen Wortschöpfungen, z.B. die “Möwensehnsucht”, die Recknagel veranlasst fliegen zu lernen, oder das krakeelende Fleischtomatengesicht von Lämmles Vater, das er noch als Erwachsener fürchtet und ablehnt zugleich. So steht die langsame Handlungsentwicklung im spannungsgeladenen Kontrast zur unmittelbaren Leseransprache und dem schnellen Erzähltempo.

Christiane Matter

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Eßlinger Zeitung, 12.08.2004

Heute beginnt in unserer Zeitung der Abdruck der Novelle “Der Flieger” von Rainer Wochele. Unser Redaktionsmitglied Iris Frey sprach mit dem Stuttgarter Autor über sein neuestes Werk.

Wie sind Sie auf die Idee zu der Novelle gekommen?

Wochele: Ich habe vor einiger Zeit im Wartezimmer meines Zahnarzts eine Reportage gelesen unter der Überschrift “Tod im Fliegerclub”, die davon handelte, dass sich ein begnadeter und hochtalentierter Hobbyflieger, von Beruf Sprengmeister, nach einem Konflikt mit dem Vereinsvorsitzenden und dessen Stellvertreter vor der Tür des Clubheims in die Luft gesprengt hat. Dieser Stoff hat mich sofort elektrisiert, weil mir das Fliegerthema nahe ist. In meinem letzten Roman “Das Mädchen, der Minister, das Wildschwein” wird viel geflogen. Das Mädchen ist Pilotin. Und ich habe gesehen, dass diese Reportage der klassische Novellenstoff ist. Hier liegt ein unerhörtes Ereignis vor. Es gibt einen starken Gegenspieler mit dem Vereinsvorsitzenden, und es waren im Stoff zwei starke Intrigen angelegt.

Warum spielt Esslingen in dem Buch eine Rolle?

Wochele: Die wirkliche Geschichte hat sich in einer Stadt in Rheinland-Pfalz unter Motorfliegern abgespielt. Ich wollte meine Novelle im Milieu der Segelflieger ansiedeln, das ich besser kenne. Und ich wollte den Schauplatz in eine Landschaft, an einen Ort verlegen, die mir vertraut sind. So habe ich mir eine Stadt gebaut, die Friedrichsburg heißt. Sie liegt am Neckar, ist eine idyllische Kleinstadt und hat oberhalb des Neckarhangs einen schönen Segelflugplatz. Dieses Friedrichsburg lässt sich leicht als Esslingen erkennen. Ich kenne Esslingen, da ich dort früher mal für ein Theaterstück recherchiert habe und den Verein “Kultur am Rande” mitgegründet habe, der Kunstaktivitäten von Obdachlosen und anderen an den Rand gedrängten Menschen ins Leben ruft. Trotzdem ist mein Friedrichsburg eine fiktive Stadt. Es ist mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Geschichte absolut nichts zu tun mit dem Esslinger Luftsportverein oder mit Persönlichkeiten in Esslingen.

Was ist die Handlung Ihrer “Flieger”-Novelle?

Wochele: Es geht um Richard Recknagel, einen Sprengmeister und begnadeten Segelflieger, 57 Jahre alt, Junggeselle, ein Original. Das Fliegen ist sein Leben. Er ist ein sinnenfroher, hilfsbereiter, poltriger Kauz, fromm auf seine Art. Er nimmt es manchmal mit den Vorschriften der Flugsicherung und dem Nüchternheitsgebot nicht gar so genau. Er neigt zu fliegerischen Eskapaden, bei denen es fast zu einem Absturz kommt. Sein Vereinsvorsitzender Dr. Horst Lämmle, mit Recknagel in einer Art Hassliebe verbunden, sieht die Gefahr und verständigt die Polizei. Es kommt zu Alkoholkontrollen. Man entzieht Recknagel den Führerschein, ihm droht der Entzug der Fluglizenz. In seiner Angst und Not sprengt er sich in die Luft. Im psychologischen Hintergrund steht Recknagels Vaterlosigkeit: Er ist in der Nazi-Zeit in einem Lebensbornheim zur Welt gekommen und sucht sein Leben lang eine Vaterfigur. Die Novelle arbeitet mit der Figur eines Erzählers, der sich verhält wie ein Kriminalkommissar. Ein Selbstmord ist passiert. Warum? Das ist das erste und letzte Wort der Novelle. Sie ist ein literarisches Ermittlungsverfahren.

Sie haben für das Buch umfangreich recherchiert.

Wochele: Ich habe die Originalgeschichte recherchiert, denn ich brauchte ein Fakten-Fundament. Ich bin nach Rheinland-Pfalz gefahren und habe Freunde des Piloten und den Vereinsvorsitzenden befragt. Dort gab es großes Aufsehen nach diesem Selbstmord. Der Vorsitzende wurde mit Vorwürfen und Drohungen überzogen. Ich habe ihm klar gemacht, dass ich ihn in meinem Buch nicht denunzieren will. Von ihm weiß ich, dass der Pilot ein Lebensbornkind war. Das war für mich der Schlüssel für das Verständnis seiner Person und meiner literarischen Figur.

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