Als Privatmann und Scheinzuhörer . Der Zauber des Slipper-feelings . Begegnung mit dem Zinspolitiker
Fein, das ging doch. War doch ganz leicht. Wenn man es konnte. Und in seiner augenblicklichen Gefühlslage gelang es ihm besser denn je. Fand er. Rauschenberg tat, als höre er dem Manne zu. Diesem Menschen zuzuhören, hatte er aber nicht die allergeringste Lust. Spürte er. Denn dafür war Rauschenberg viel zu sehr von seinem, ihn wieder einmal ganz herrlich belebenden Slipper-feeling durchdrungen. Und er war privat hier. Auf diesem Bahnhof. Das sah man ihm doch an, Herrgott noch…
Den Anschein zu erwecken, man höre jemandem zu, hatte Rauschenberg in den langen Jahren seiner steilen Karriere im Lichte der Öffentlichkeit zu einer ganz hohen Perfektion entwickelt. Von der aber niemand als der sie Ausübende wusste. Also nur er. Was schade war. Denn man hatte derlei Könnerschaft ja heimlich zu praktizieren. Immer wieder. Solche Vortrefflichkeit einer absolut makellosen und gleichzeitig völlig undurchschaubar vorgetäuschten Zuhörkunst, kam ihm auch jetzt wieder ungemein zustatten. Denn er wollte sich ja seine Stimmung von dem Mann, der da seit einigen Augenblicken vor ihm stand und ernst und leidenschaftlich auf ihn einsprach, nicht verderben lassen.
Slipper-feeling nannte Rauschenberg solchen Seelenzustand, mein Slipper-feeling. Es war eine fast an bubenhaften Übermut grenzende Befindlichkeit, die sich oft zu Beginn politikfreier Tage oder aber auch, wie heute, zu Anfang seines Urlaubs einstellte, eine Art vergnügter Leichtherzigkeit, die ihn – sonderbar genug – meist von den Füßen, den Beinen her zu durchströmen begann, als befinde sich der heiterste Teil seines Wesens in seinen unteren Extremitäten – nun, Rauschenberg war Läufer.
Vielleicht hing es aber auch nur damit zusammen, dass er, einmal für einige Tage seiner Amtspflichten ledig, stets anderes Schuhwerk zu tragen pflegte. Seine abgebrauchten alten Nike-Laufschuhe zu Hause zum Beispiel. Oder auch, draußen, ganz leichte, den Fuß nur fein umschmeichelnde, mokassinartige Slipper eben. So wie er sie heute zu seinen verwaschen aussehenden Jeans und der gelbbraunen Jacke aus Ziegenleder gewählt hatte, ehe er in der Behörde Bescheid gab, er würde für den Rest des Tages nur noch übers Handy erreichbar sein. Dann war er mit der Straßenbahn losgegondelt – wieder einmal mit der guten alten Straßenbahn -, um Ines und ihre Mutter Lisa am Bahnhof zu treffen. Jetzt, während er dem Manne seit einigen Augenblicken beständig auf den Mund schaute, auf die schmalen Lippen schaute, zwischen denen sich die Wörter hervorschoben wie gestanzte Blechteile aus einer auf Hochtouren laufenden Presse, verspürte Rauschenberg auf einmal Appetit auf Süßes. Schon schob er die Hand in seine Jackentasche, das knisternde Papier, hob den Blick, ließ seine Augen einen Moment lang über den Bahnsteig schweifen, bemerkte dann, dass ein Mann und eine Frau, die in einer länglichen Tasche ihr Baby zwischen sich hängen hatten, zu ihm hersahen.
Mehrmals deutete der Mann mit dem Kopf in seine Richtung. Und während das Paar seinen Nachwuchs am Henkel trug, blickten die beiden unverwandt herüber. Rauschenberg kannte die Leute nicht, die da im Gleichschritt ihr Kind über den Bahnsteig schweben ließen. Doch er lächelte ihnen gern zu jetzt, deutete auch ein Nicken an, was von denen durchaus als Gruß verstanden werden durfte, zog die Hand aus der Tasche. Nein, Schokolade essend wollte er nicht gerade erkannt werden, hier, auf Gleis neun, an diesem Freitagnachmittag, 28.Juli. Dann schon lieber den Anschein erwecken, als sei man in ein furchtbar wichtiges Gespräch vertieft.
Rauschenberg hatte den Mann sofort erkannt, als dieser mit seiner schwarzen, abgewetzten Aktentasche in der Hand auf ihn zugetreten war, während er, Rauschenberg, von prickelndem Slipper-Feeling durchpulst, hier auf dem Bahnsteig gestanden war und wartete, bis Ines zurückkam. Ach du meine Güte, hatte Rauschenberg gedacht, der Zinspolitiker. Der Mann mit seinem strohfarbenen Haarkranz um den Schädel war ihm aus vielen ihrer Parteiversammlungen bekannt. Es fiel ihm aber zu dessen Gesicht im Moment kein Name ein, was Rauschenberg peinlich war. Nur dass der Mann in der Partei allgemein Zinspolitiker genannt wurde, rückte Rauschenbergs auf Freizeit gepoltes Gedächtnis heraus. Zinspolitiker, weil der Mann beinahe jeden seiner unvermeidlichen Wortbeiträge in den Kreiskonferenzen, den Ortsvereinssitzungen unweigerlich in die eiskalten Argumentationshöhen von internationalen Zinsfragen und globalen Weltbankproblemen hinaufredete. So hoch droben war der aber jetzt noch nicht. Was er im Moment von sich gab, hing noch mit erdumspannenden Umweltschädigungen zusammen, “die ja für Marx so keinesfalls vorhersehbar gewesen sind, nicht wahr, Rauschenberg?”
Halte deinen Kopf schräg. Ohr, sei ganz Ohr. Sei ein Ohr. Sei ein riesiges Ohr auf weichem Schuhwerk. Und ab und an genickt und aufgepasst, wann du dich dieser Nervensäger entledigen kannst. Eine junge Frau ging vorüber, wie Rauschenberg aus den Augenwinkeln heraus wahrnahm. Braune Jacke, hübsches Gesicht, umflossen von einer bis über die Schultern herunterreichenden Haarflut, Löwenmähne, die Mähne einer Löwin, da geht eine Löwin. Doch dann blieb die Frau stehen, schob sich einen Streifen Kaugummi in den Mund. Rauschenberg sah, wie sie das Silberpapier achtlos zu Boden fallen ließ und sofort spürte er den Druck einer kleinen hochstiebenden Enttäuschung in sich.
Als Rauschenberg kurz darauf dem Strohbüschelmann in die Augen blickte, darin sowohl einen Anflug von Wehmut als auch ein kleines kaltes Feuer wahrnahm, nahm er in Gedanken den Ausdruck Nervensäge zurück. Mein Gott, dachte Rauschenberg, wann kommt Ines endlich, sie könnte dich erlösen. “Nicht wahr, Rauschenberg, du hast keine Kinder”, sagte der Zinspolitiker jetzt, hatte seinen Redestrom für einen Moment unterbrochen, schaute Rauschenberg scharf an. Er frage dies auch mit Blick auf einige in die Zukunft weisende politische Entscheidungen, die “du demnächst zu treffen hast”.
Das ging doch eindeutig zu weit. Das war doch eine tief ins Private schneidende Frage, die dem da doch gar nicht zustand. Doch dann wurde sich Rauschenberg bewusst, dass er ja hier auf Gleis neun neben dem Gepäck von Ines stand wie ein beliebiger Privatmann, ein in Jeans und Lederjacke natürlich völlig privat wirkender Mensch und kein gewichtiger Mandatsträger, keine Amtsperson, keine politische Spitzenkraft.
Er gab dem Manne Antwort. Das Maß des Unmuts, das er aus seiner Stimme heraushörte, erschreckte ihn heftig.