Rainer Wochele

Leseprobe aus «Kopfhörer»

BRETSCHNEIDER

Jawohl, brillant. Beinahe brillant. So mußte man das machen. So mußte man das servieren. Ein ausgezeichnetes Stück Arbeit. Das hätte man fast selbst geschrieben haben können. Schade, daß man das nicht selbst geschrieben hatte! Wirklich schade. Aber es freute einen dann doch, so etwas zu lesen. Wo man schließlich all die Jahre dazugehört hatte. Und jetzt natürlich immer noch dazugehörte. Irgendwie. Auch wenn man raus war. Genaugenommen. Genaugenommen war man doch mehr oder weniger raus. Daß man aber auf den Seiten seines Blattes immer wieder solche journalistischen Glanzstücke entdecken konnte, war reines Glück für einen in Pension.
Bretschneider tauchte aus dem Buchstabengrau auf, ließ sein Blatt sinken.
Draußen die Stadt. Von einem Straßenbahnsitz aus erschien sie ihm immer wie eine gedrängte Ansammlung von Örtlichkeiten, an welchen sich ständig Mitteilenswertes ereignete; Begebenheiten, die geradezu danach schrien, zu Meldungen, Reportagen, Features verarbeitet zu werden. Ohne dieses journalistische Durchdringungsgefühl konnte er sich schon seit langem nicht mehr durch seine Stadt bewegen.
Regen, vermeldete der dunkel gewordene Asphalt. Man fuhr bereits durch äußere Bezirke. Nun auch Nässe auf der Scheibe. Und dann sah er den Regen Tropfenzeilen über das Glas ziehen, eine rasch dichter werdende Schraffur, hinter der sich die Konturen der Häuser und Straßen immer mehr auflösten. Er mußte jetzt noch ein wenig bei dem verweilen, was der Kollege von ‘Seite drei’ da in die Welt gesetzt hatte. Bretschneider schmunzelte innerlich. Innerlich setzte er eine vergnügte Miene auf. Und er nahm sich vor, bei Kreßmanns, wohin er unterwegs war, den dort versammelten Kolleginnen und Kollegen gegenüber den Artikel lobend zu erwähnen.
Denn das war ja ganz wichtig: zu loben. Man mußte immer wieder auch loben. Auch wenn man das Gebäude jetzt nur noch höchst selten betrat, mußte man Sachen von Kolleginnen und Kollegen immer wieder auch gut finden. Zum Beispiel. Oder, was aufs gleiche hinauslief, Berichte, Artikel, Kommentare mit dem Messer der unbarmherzigsten Analyse zerstückeln. Regelrecht zerfetzen. Das zog einen wieder hinein. Führte denen vor, daß man doch alles andere als ein vergreisendes Pensionswrack war.
Bretschneider saß jetzt gerne da, schaute zum Fenster hinaus, über das der Regen Spuren zog. Straßenbahnfahren war auch nicht schlecht, stellte er immer wieder fest, wenn etwa der Wagen in Inspektion war. Er hatte sich die politischen Seiten der Samstagsausgabe mitgenommen, wollte noch einmal alles durchgehen. Wenn man mit Schärfe, mit Häme gar Zensuren verteilen können wollte, mußte man im Gedächtnis alles sofort griffbereit haben. Und jenen Artikel über die nun allmählich abgedroschene Kontroverse um diesen Staatsbesuch hätte er doch beinahe übersehen. Dafür jetzt Glanzvolles auf ‘Seite drei’. Ein Fundstück für einen, der loben mußte.
Bretschneider schaute ins Innere des Wagens. Ein paar discofiebrige Teenager. Einige alte Leute. Vorne, hinter Glas, der Fahrer, wie eingeschmolzen ins graue Licht. Angesichts der fast leeren Bahn drängte es ihn, an die seit neuestem wieder aufgeflammte Nahverkehrsdebatte zu denken. Er ließ es. Er zwang sich, das zu lassen. Er wußte, Leute seines Berufsstandes neigten zu maßloser Überbewertung persönlich gemachter Erfahrungen. Eine weit verbreitete Journalisteninfektion: Als direkt Betroffener außerhalb der eigentlichen Berufsausübung etwas zu erleben, mitanzusehen, zum Beispiel als Gartenbesitzer, Hundehalter, Speisewagenbenutzer, Amtsstubenbesucher, und schon schrie die Glosse, der Kommentar förmlich aus einem heraus. Schon meinte man haargenau zu wissen, was draußen in Stadt und Land wirklich los war, was die Menschen im Kern um trieb. Und sofort mußte man an die Maschine.

Tropfen besagen nichts. Regen, den Fahrtwind auf Fensterglas wirft, dort zu schrägen Zeilen ordnet, ist kein Beweis. Gern hört, sieht Bretschneider jetzt, wie die Bahn Haltestellen abklappert. Auf einmal wird das auf der Scheibe vor ihm zu etwas, das man hinschreibt, Punkte für Pieptöne, Striche fürs Tuten: Did-daaa-did-did … Wieder sieht er sich in einer der Leitstellen, das Uniformhemd aufgeknöpft, die Ohren unter den Kopfhörern. Sie zirpen ihm Botschaften zu von Truppenbewegungen, Marschbefehlen, Einsatzplänen. In deinen Ohren – was ist das, fragt er sich manchmal. Die Hand huscht unterm Lampenschirm hin, notiert, dechiffriert, macht sichtbar, was die Ohren verstehen, hinterläßt Spuren eines Geschehens, das sich aufbäumt oder ausatmet. Die übers Papier hintanzende Bleistiftspitze ist das dein Krieg, fragt er sich oft, die Hand am Reglerknopf der Peilung, lässig, wie ein an den Apparat gewachsenes Organ, das sich bewegt, nachdreht, wenn das Zikadenkonzert in den Ohren wegschwimmt: Did-daaa-did-daaa … Und auf dem Gerät wie immer, ganz gleich wo die Einheit unterkommt, das Foto von Hanne. Die Verlobung erst später, dreiundvierzig, Fronturlaub.
Drei stürmen aus dem Regen herein. Haltestelle Viadukt.
Den Fahrkartenautomaten würdigen sie keines Blickes, schmeißen sich in einen Viererplatz. Er schaut auf die Uhr: zwanzig nach sieben. Dann hört er in sich jemanden fragen: Wer, was, wann, wo, wie, warum? Alter dreiundzwanzig bis fünfundzwanzig. Schwarze Motorradjacken. Und der jemand in Bretschneider redet zügig weiter: Stiefel. An den Knöcheln Riemen, von Ringen zusammengehalten. Abzeichen auf den Jacken, eines davon aus der Distanz lesbar, englisch: “I would rather eat salt than ride a Jap bike.”
“Deutsch-land, Deutsch-land … “, ruft einer, die anderen, klatschend: “Eiei-ei-ei …!” Und nochmals: “Deutsch-land, Deutsch-land. ..!”
Blond, Bierbüchse in der Hand, der andere Hautgschwulst an der Lippe, vermutlich von einem Schlag, schwarze Lederhandschuhe mit abgeschnittenen Fingern. Schnupfen, zieht Nase hoch. Nur das jetzt nicht. Weißt du doch. Sonst polt sich das um. Sonst geht das nicht weiter. Nur jetzt kein Blickkontakt. Riech mal. Du spürst es schon.
Kein Vorspann, wissen noch nicht, was das Wichtigste sein wird, aber ein Absatz ließe sich, sofern’s was Nachrichtliches sein sollte, schon hinsetzen. Etwa so: Die drei haben um neunzehn Uhr zweiundzwanzig an der Haltestelle Viadukt den vorderen Wagen der Linie eins betreten. Nach Angaben von Augenzeugen wurde wenig später ein Fahrgast von einem der jungen Männer mit einer Bierbüchse beworfen. Der Fahrgast trug eine braune Strickmütze und eine helle, aus grober Wolle gestrickte Jacke. “Bist du Jude”, wurde der Fahrgast von einem der drei gefragt, “du siehst so jüdisch aus.” Punkt, Abführung. Daraufhin habe sich einer zu einem der Komplizen gewandt und gesagt: “Guck mal Bimbo, der hat ‘ne Judenmütze auf seinem Judenkopf. Und das da, das ist eine echt jüdische Strickjacke.” Neuer Absatz. Würde wichtig sein, würde man wissen wollen: also Reaktionen jetzt. Vielleicht so: Der Angepöbelte habe besonnen reagiert. Schließlich hätten sich die drei allerdings vor ihm aufgebaut – stop, was heißt ‘allerdings’, streich das – vor ihm aufgepflanzt und geschrien, ob er überhaupt einen deutschen Ausweis habe. Er sehe nicht gerade wie ein Deutscher aus. Wörtliches Zitat jetzt wieder, Doppelpunkt, Anführungszeichen: “So, du bist also ein Alternativer. Und du glaubst natürlich an ein Leben nach dem Tod. Na sowas. Hier hast du dein Leben nach dem Tod.” Punkt, Abführung. Neuer Absatz. Daraufhin, so Augenzeugen übereinstimmend, hätten sie zugeschlagen.
Endhaltestelle. Die Leute verlassen die Bahn. “Adolf lebt!”, grölen die drei, “Adolf lebt!”
Vor der Tür, Hände in die Hosentaschen gerammt, der Straßenbahnfahrer. Der Mann in der Strickjacke, im Gesicht heftig blutend, steigt aus, torkelt davon.
Der Straßenbahnfahrer: “Aha, Nasenbluten!”
Sie kamen von hinten, rempelten Bretschneider in der Wagentür an und stürmten hinaus. Könntest du jetzt nicht, dachte er, eine sehr sanft beginnende Arbeit machen, sagen wir angelegt so auf hundertfünfzig, hundertachtzig Zeilen? Aussagen von Psychologen, Sozialwissenschaftlern, die noch zu befragen wären, könntest du sorgsam einbauen, alles aufputzen mit diesem oder jenem Zitat? Und würde das Ding dann nicht Fahrt und Atem haben? Und es entstünde, wenn du Glück hättest und an der Maschine gut in Form wärest, ein schillerndes, brillantes Satzgeflecht, das jenes Leuchten hervorbringt, wie es ungewöhnliche Texte dieser Art haben?
Haltestelle grenzt an Park. Dämmerung. Park menschenleer. Dann steht er hinter einem Baum, schaut hinüber. Sie haben den Mann jetzt zwischen sich. Bäume schützen zur Haltestelle hin. Eiben, denkt Bretschneider noch, das sind ja Eiben …! Und er steht da, blickt hin, sieht, was zu sehen ist, eins ums andere. Und in seinem Kopf der alte, wilde Tanz der Wörter.

Zurück

Rainer Wochele copyright 2004-2011 ff.